Aus gegebenem Anlass wird der diesjährige Festakt zum Tag der Deutschen Einheit thematisch etwas vom Mauerfall und der friedlichen Wiedervereinigung abweichen. Im Kern geht es aber erneut um Freiheit. Jene Freiheit nämlich, die im wiedervereinigten Deutschland seit 1990 überall selbstverständlich ist und zur DNA Europas gehört. Seit dem 24. Februar 2022 wird diese Freiheit durch die imperialistischen Fantasien Putins und den russischen Angriff auf die Ukraine massiv bedroht. Der Ausgang des Krieges und die Folgen sind offen. Doch die Hoffnung, dass nach Kriegsende in Russland eine grundlegene Demokratisierung einsetzt, kann Claudia Weber schon jetzt nicht teilen. Die Professorin für Europäische Zeitgeschichte an der Viadrina in Frakfurt (Oder) ist ausgewiesene Russland-Kennerin und hat ihre wissenschaftliche Arbeit den deutsch-russischen (deutsch-sowjetischen) Beziehungen gewidmet. Am Montag, 3. Oktober 2022, wird sie ab 11 Uhr im Kaarster Rathaus die Zeitenwende aus Sicht der Historikerin einordnen. Im Interview äußert sie sich vorab bereits zur unterschiedlichen Sicht auf Russland in Ost- und Westdeutschland.


Frau Weber, 32 Jahre nach der Wiedervereinigung erleben wir die nächste Zeitenwende und Deutschland debattiert über seine Rolle in der Sicherheits- und Außenpolitik. Warum ist die Debatte darüber und über das Verhältnis zu Russland in Ost und West so wenig einheitlich?

Claudia Weber „Zunächst einmal denke ich, dass Einheitlichkeit in einer so diversen Gesellschaft wie der heutigen Bundesrepublik gar nicht möglich ist. Vielleicht ist sie nicht einmal erstrebenswert, sondern vielmehr der demokratische Wille, aus Meinungskonflikten und Auseinandersetzungen eine gesellschaftliche Haltung zu entwickeln. In der Ablehnung von Krieg und Gewalt sehe ich einen großen Konsens und diese Haltung ist mir wichtig. Dass Russland in Ostdeutschland anders betrachtet wird, ist sicher richtig und hat, wie ich denke, mit den Transformationserfahrungen der 1990er Jahre zu tun. Zudem gab es in den Jahrzehnten des Kalten Krieges nicht nur die „verordnete Freundschaft“, sondern auch viele persönliche Verbindungen und die geteilte Ablehnung des diktatorischen Regimes. Viele haben Wladimir Wyssozki gehört und teilten Wodka, Hohn und Spott. Diese Distanz zum Staat und das Misstrauen gegenüber der „offiziellen Politik“ ist in der ostdeutschen Gesellschaft verankert. Aus historischer Perspektive würde ich das besondere Verhältnis zu Russland aber keineswegs nur im Osten verorten. Deutschland und Russland hatten in der Geschichte oft gemeinsame geopolitische und wirtschaftliche Interessen und haben diese nicht selten zum Schaden Europas durchzusetzen gewusst.“         

Gorbatschow ist vor wenigen Wochen gestorben. Mit seinem Namen war die Hoffnung auf ein demokratisches Russland verknüpft. Sehen Sie Chancen für einen solchen Prozess in der Russischen Föderation?

Weber „Kaum. In der derzeitigen politischen Situation in Russland sind die Chancen für einen demokratischen Prozess nach dem westlichen Modell sehr gering. Ich denke, dass die politische Elite des Landes dies auch gar nicht beabsichtigt. Es existiert kein Wille zur demokratischen Transformation und dies ist ein wichtiger Unterschied zur Regierungszeit von Michail Gorbatschow und seiner Politik von Glasnost und Perestroika. Heute geht es darum, ein Gegenmodell zum so genannten westlichen System zu etablieren und zwar auf globaler Ebene. Im Prinzip handelt es sich um eine offene Kampfansage, die uns beunruhigen muss.“

Welche Fehler haben Deutschland und Europa in Bezug auf ihre Russland-Politik seit Beginn des 20. Jahrhunderts gemacht? Sind Putins imperialistischen Großmacht-Fantasien letztlich die Folgen dieser Fehler?

Weber „Das ist eine sehr komplexe Frage, auf die es keine einfachen und eindeutigen Antworten gibt. Zumal vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs gar keine einheitliche europäische Politik in Bezug auf das damals bolschewistische Russland existierte. Zu Deutschland, also zum Kaiserreich, der Weimarer Republik und teilweise auch zum „Dritten Reich“ bestand eine eigentümliche „Sonderbeziehung“. Man denke nur an den berühmten Rapallo-Vertrag vom April 1922 oder den berüchtigten Hitler-Stalin-Pakt. Beide Aspekte werde ich in meinem Vortrag diskutieren. Putin verfolgt tatsächlich eine imperiale Politik nach altem Muster, die nicht die Folge westlicher Fehler ist. Der Zerfall der Sowjetunion war ein innerer Prozess des allmählichen Niedergangs und der fehlenden Einsicht, auf Gegenwartsprobleme adäquat zu reagieren. Die Ereignisse der Jahre 1989 bis 1991 sind dem vielgescholtenen Westen nun wirklich nicht anzulasten. Eine gewisse Überheblichkeit und unsensible Siegermentalität nach dem Ende des kalten Krieges aber schon. Auch darüber werde ich sprechen.“

Infos zu Prof. Dr. Claudia Weber

  • Jahrgang 1969
  • Studium der Südslavistik, Politikwissenschaften und Osteuropawissenschaften an der Universität Leipzig
  • Forschungsaufenthalte in Bulgarien und einer Lehrtätigkeit am Historischen Seminar der Universität Basel
  • Promotion 2003 mit einer Studie zur Denkmalssymbolik und nationalen Erinnerungskultur in Bulgarien
  • Bis 2007 wissenschaftliche Assistentin am Historischen Seminar der Universität Leipzig
  • Anschließend bis 2014 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Hamburger Institut für Sozialforschung
  • seit Dezember 2014 Professorin für Europäische Zeitgeschichte an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder)

An der Europa-Universität Viadrina betreut Claudia Weber das Projekt „Zeitlandschaften. Transnationale Vergangenheitsdiskurse und Zukunftsentwürfe am Ende des Kalten Krieges“. Seit September 2015 ist sie Vizepräsidentin für Forschung und wissenschaftlichen Nachwuchs.  Forschungsschwerpunkte sind unter anderem die Gewalt- und Diktaturengeschichte des 20. Jahrhunderts, die Kulturgeschichte des Kalten Krieges sowie die vergleichende Imperiengeschichte. Sie ist Mit-Herausgeberin der Reihe "Forschungen zur osteuropäischen Geschichte".

Claudia Weber ist u.a. Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde e.V. in Berlin und Leiterin der Zweigstelle an der Europa-Universität Viadrina, des Beirats Bildung und Diskurse des Goethe-Instituts, des Beirats Zeitgeschichte-online am Zentrum für zeithistorische Forschung in Potsdam. Seit März 2017 ist sie Mitglied des Fachbeirats Wissenschaft der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.