Einführungsrede des Kunsthistorikers Udo Kasprowicz

Der Anspruch des absichtslosen Entdeckens oder mit einem Fachbegriff geadelt „Serendipidität“ als Maxime der Kunstbetrachtung ist ein gefährliches Ideal. Auf den ersten Blick verleiht er den Kunstbegeisterten scheinbar die ungeheure Freiheit, ungeleitet zu einem autonomen Urteil zu gelangen. Gleichwohl droht man doch der Gefahr zu erliegen, von uneingestandenen, augenblicklichen Stimmungen beeinflusst, Kunst sehr situationsabhängig zu rezipieren.

Aber Kunst schwebt – nicht erst seit der „documenta“ -. nicht im luftleeren Raum. Sie entsteht als Teil unserer Kultur und sucht Antworten auf Grundfragen unseres gesellschaftlichen und politischen Lebens. Diese Antworten sind nicht in Stein gemeißelt, stellen keine ewigen Wahrheiten dar, sondern müssen, weil die Verhältnisse sich ändern, immer wieder neu gegeben werden.

Begleiten Sie mich also auf einen kleinen Spaziergang durch ein Gemälde Pieter Breughels mit dem Titel „Landschaft mit Sturz des Ikarus“. Er wird Sie anregen, die alten Antworten auf die Frage nach dem Menschsein in Freiheit und Verantwortung auf dem Weg durch Ausstellung weiterzuentwickeln.

Der Mythos, der Breughel zu diesem Bild angeregt hat, ist kurz skizziert: Daedalus ist mit seinem Sohn Ikarus Gast des Königs Minos von Kreta. Er baut in seinem Auftrag einen Käfig für den Minotaurus, diesen kinderfressenden Stiermenschen, das berühmte Labyrinth. Minos Zufriedenheit mit dem Architekten ist so groß, dass er ihn nicht nach Hause reisen lässt, obwohl das Heimweh Vater und Sohn quält. Da baut Daedalus nach dem Vorbild der Vögel Flügel aus Wachs und Federn und beide fliegen unbemerkt davon. Ikarus aber missachtet die Warnung des Vaters und nähert sich aus der Begeisterung zu fliegen zu sehr der Sonne, das Wachs schmilzt, die Federn lösen sich und Ikarus ertrinkt im Meer. Daedalus erreicht wohlbehalten festen Boden.

Schon in der Antike war man sich in der Deutung einig. Daedalus erfolgreicher Flug preist den Mittelweg, leichtsinnige Abweichungen wie in Ikarus Fall haben schreckliche Folgen.

Wie aber rechtfertigen wir einen Vater, der nicht umgekehrt, wenn der Sohn in Gefahr gerät? Selbst wenn eine konkrete Hilfe nicht möglich erscheint, (wie soll man ein Federkleid mitten auf dem Meer neu zusammensetzen?) ist nicht das Entsetzen über den bevorstehenden Tod des Sohnes so groß, das es die Vernunft außer Kraft setzt und den Vater zum Beistand zwingt?

Insgeheim missbilligen wir das Verhalten des Vaters, aber aus gesellschaftlicher Sicht handelt er vernünftig. Der Soziologe Max Weber hätte seine Entscheidung als verantwortungsethisch bezeichnet. Die Bewahrung des eigenen, dem Gemeinwohl dienlichen Lebens hat Vorrang vor der Hingabe an die Emotionen, selbst wenn der Beistand in der Todesstunde von hoher moralischer Gesinnung gezeugt hätte.

Vor die Entscheidung, seiner Gesinnung zu folgen oder sozial verantwortlich zu handeln, ist jeder von uns gestellt in den ethischen Bewährungsproben, die im Leben auf uns warten. Denken wir nur an die Diskussion über die Behandlungsreihenfolge in den zurückliegenden Höhepunkten der Pandemie.

Wie entscheiden wir uns? Spazieren Sie mit mir durch Breughels Welt! Der Bauer pflügt, der Schäfer schaut entweder verträumt in den Himmel oder er hat etwas bemerkt. Die Schiffe setzen ihre Fahrt fort. Selbst die Karavelle, die dem zappelnden Ikarus hätte helfen können, dreht nicht bei. Sie verkörpern eine Lebenshaltung, mit der das erstarkende Stadtbürgertums das Mittelalter verabschiedet. Das Leben wird nicht als die Vorbereitung auf die Ewigkeit verstanden, sondern als eine Zeit, die man nutzen soll. Luther hat die rechtschaffene Arbeit als Lebensinhalt des Bürgers aufgewertet gegenüber dem kontemplativen Leben im Kloster, „Utilitarismus“ heißt der Fachbegriff.

Wir haben das Nützlichkeitsdenken so verinnerlicht, dass die Frage nach dem „wozu“ die Frage nach dem „warum“ völlig verdrängt hat. Ja, es geht soweit, dass nur nützliches Handeln als vernünftiges Handeln gilt, das Kant zur Grundlage einer allgemeinen Gesetzgebung erklärt und ethisch als Pflicht adelt. Jeder deutsche Bundeskanzler schwört: „das (er seine) Kraft dem Wohle des Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden abwehren usw.“

Aber Breughel, der Maler, übt Kritik auf seine Weise! Der Bauer nimmt, so fleißig er ist, nichts als den Boden vor seinen Füßen wahr. Der Schäfer blickt ins Leere, weil die Schafe ihn gerade nicht brauchen. Außer nützlich sein können sie beide nichts.

Und Ikarus?
Sind Flügel nicht eigentlich Merkmale der Gottnahen? Der Götterbote Hermes trägt Flügelschuhe, die Gottesboten der Bibel (Angeloi) tragen Flügel. Engel sind Gottgesandte, Ikarus dummerweise nicht. Sein Vater stattet ihn mit Mitteln aus, die Schwerkraft zu überwinden, er befreit ihn von Naturgesetzen. Und Ikarus nutzt die Gunst der Stunde. Er will die Freiheit auskosten und die Welt aus Gottes Perspektive sehen. „Hier ist die Aussicht frei, der Blick erhoben“ heißt es in Goethes Faust. Für die Antike und das christliche Mittelalter ist dieser Wunsch frevelhaft. Die Alten nannten es „Hybris“, die Mittelalten „maßlos“, weil es gegen die Kardinaltugend des Zeitalters „das Maß wahren“ verstieß.

Sollen wir es uns so einfach machen?
Dieses ewige „graue Autos fahren“, damit man nicht auffällt, dieses „Aufhören, wenn‘s am besten schmeckt“, dieser widerwillige Griff zu Kleidung, die jeder Gelegenheit entspricht, dieser ewige Mittelweg.

Haben wir Mut zur Freiheit, zur reflektierten Freiheit!
Befreien wir uns von Bindungen, die uns an der Entfaltung unserer Möglichkeiten hindern. Jeder muss sich Klarheit über seine persönliche Determination verschaffen. Daedalus brauchte die Stadt, die Welt, um seine Talente zu entfalten; auf Kreta wäre er ein systemstabilisierender Handwerker geworden.

Die Flügel haben Ikarus die Freiheit geschenkt, sich vom vertrauten, Sicherheit vermittelnden Boden zu lösen; sie geben ihm die Chance, auf persönliche Bindungen zu verzichten, er löst sich vom Vater, jedoch ohne ein alternatives Ziel bestimmt zu haben.

Wenn wir wissen, „wovon“ wir uns befreien wollen, brauchen wir ein Freiheitsziel. Wohin soll die Freiheit führen? Welche Rolle in der Welt zu spielen ist uns gegeben? Fehlt eine Antwort auf diese Frage, droht das Schicksal des Ikarus, dabei ist es gleich, ob wir im Meer ertrinken, in der Wüste dahinvegetieren oder im Sinne der Maxime Frank Sinatras „I did it my way“ dem beziehungslosen Hedonismus zu verfallen und den sozialen Tod sterben.

Die moderne Wohlstands- und gleichzeitig Massengesellschaft lehrt uns einen dritten Freiheitsaspekt, der ein solches Gewicht bekommen hat, dass er das Ideal „Freiheit“ zu pervertieren droht: Freiheit wodurch?

  • Ich darf Risikosportarten betreiben: Die Kranken und Sozialversicherung wird zahlen aufgrund des Rechtes auf eigenverantwortete Selbstgefährdung.
  • Ich nehme mir die Freiheit, ohne ausreichende körperliche Konstitution und Ausrüstung im Meer zu schwimmen: Die DLRG rettet mich selbst bei Sturm mit schier unsinkbaren Motorbooten.
  • Wir hören von Bergwanderern mit Flipflops und Spaghetti T-Shirts in 2000 m Höhe: Nach dem Gewitter kommt die Bergwacht mit dem Hubschrauber.

Das aber ist Freiheit mit Versicherungsschutz und damit Scheinfreiheit, denn sie muss sich um die Fragen des „wovon“ und Wofür“ nicht kümmern: Ganz gleich, was geschieht, alles wird gut!

Darauf konnte sich Ikarus nicht verlassen. Für ihn gehörten Freiheit und Selbstverantwortung, d.h. Tod um der Freiheit willen, zusammen.

Vielleicht lautet die Lösung Freiheit in gesellschaftlicher Verantwortung?